Dienstag, 3. Januar 2012

Das ganz grosse neue Ding

DAS MÄDCHEN MIT DEN ÄNGSTLICHEN AUGEN

I got a bad desire
Oh oh I’m on fire
(John Mayer)


1. Das ganz grosse neue Ding


Alys verdreht die Augen ein wenig. Die Frau im Spiegel tut es ihr gleich.

«Jetzt mach schon, wir kommen zu spät», quengelt Mascha hinter ihr.

Resigniert greift Alys nach dem schwarzen Kajal. Flüchtig schiesst ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Maschas Kleinmädchentonfall schlecht zu der 27-jährigen Frau passt, die sie ist. Eigentlich.

Alys beugt sich etwas vor und reisst das linke Auge auf. «Ich weiss immer noch nicht, warum du da genau hinwillst», murmelt sie und versucht, eine präzise Linie zu malen.

Sie mag es nicht, sich vor Mascha zu schminken, weil ihre beste Freundin doch viel besser ist in solchen Dingen als sie selbst. Noch weniger mag sie es, wenn sie es anscheinend eilig haben.

Diesmal verdreht Mascha die Augen. Sie sind gross und braun und mit viel grauem Lidschatten und Wimperntusche wirksam in Szene gesetzt. Der Begriff Rehaugen mag abgedroschen klingen, aber er passt wie die Faust aufs Auge. Augen wie Audrey Hepburn. Alys hat sie schon immer etwas darum beneidet. Braune Augen schienen ihr schon als Kind das Mass aller Dinge zu sein. Vielleicht weil ihre ganze Familie blauäugig ist. Augen hatten es ihr schon immer angetan und sie fasziniert. Vielleicht hätte sie doch Optikerin werden sollen. Was auch immer.

Mascha verlagert ihr Gewicht elegant auf das andere Bein und beginnt, die Gründe, warum sie dorthin will, an ihren Fingern abzuzählen. «Man muss ihn einfach gesehen haben. Er ist das ganz grosse Ding. Und wir waren ewig nicht mehr zusammen weg.» Da ist er wieder, der quengelige Tonfall.

«Ich weiss», sagt Alys. Aber heute ist wieder einer dieser Abende, an dem sie einfach nur auf dem Sofa sitzen will, die Finger an einer grossen Tasse Kaffee wärmen und nichts tun. Die Heizung tut mal wieder schwierig und will ihre Zweizimmerwohnung nicht recht aufwärmen. Vielleicht eine DVD einschieben. «North and South» mit dem unvergleichlichen Richard Armitage hilft immer an Abenden wie diesem.

Alys legt den Kajal wieder hin und kramt in ihrem Kosmetikbeutel, unzählige rote Herzen tummeln sich auf dem schwarzen Stoff, der so tut, als sei er Samt. Ihre Vorliebe für Herzen sorgt immer wieder für spöttische Bemerkungen ihrer Freunde. Sie sind überall, in der Form von Schlüsselanhängern, Medaillons und Anhängern an ihren Halsketten, aufgedruckt auf ihren Notizbüchern, finden sich an Armspangen und sogar an Reissverschlüssen. Sie weiss selbst nicht so genau, warum. Sie gefallen ihr einfach. Und manchmal merkt sie erst später, dass sie wieder etwas gekauft hat, das in irgendeiner Form ein Herz aufweist. Sie findet endlich die Wimperntusche und öffnet sie. Hinter ihr tritt Mascha ungeduldig von einem Fuss auf den anderen. Sie sagt nichts, aber Alys hört es genau.

«Ich bin gleich fertig», sagt sie rasch und versucht, ihre Stimme besänftigend klingen zu lassen. Normalerweise ist sie immer schneller fertig als Mascha, ihre Freundin ist die Eitlere der beiden. Aber heute kam kurz vor sieben noch ein Anruf eines potentiellen Kunden und hatte sie aufgehalten.

Sie wirft einen letzten Blick in den Spiegel. Die Lust, auszugehen ist immer noch nicht grösser geworden. Der wenige Schlaf der letzten Zeit hat ihre Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen und blaue Schatten unter ihre Augen gemalt. Ich sehe müde und abgespannt aus. Etwas zu viel Arbeit in der letzten Zeit. Die viele Arbeit mit etwas zu vielen späten Drinks mit Jasper kompensiert.

Jasper. Hastig verdrängt sie Gedanken, bevor Mascha ihrem Gesicht ansieht, woran sie denkt.

Alys nimmt ihre schwarze Lederjacke vom Haken, schlüpft hinein und wickelt sich den dicken cremefarbenen Wollschal um den Hals. Es ist November und kalt draussen. Noch ein Argument, zu Hause zu bleiben, aber sie wird Mascha nicht davon abbringen können. Wenn Mascha sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann nichts und niemand sie davon abhalten. Auch Schneeregen nicht.

Montag, 4. Juli 2011

Was Altes.

- entstanden vor langer Zeit in einem Kurs namens Schreibwerkstatt


Wer weiss schon, was morgen ist

Wer weiss schon, was morgen ist. Der Satz steht da, das Papier saugt die Tinte auf. Der Stift verharrt in der Luft. 

Wer weiss schon, was morgen ist, wiederholt sie für sich selbst. Sie zwängt die Antwort zwischen die Linien: Niemand weiss, was morgen ist.

Ihr Nacken schmerzt, zu lange sitzt sie schon da, den Stift in der Hand. Sie hatte schreiben wollen, es aufschreiben, aus der Welt schaffen, loswerden. Wegschliessen, verstecken in der untersten Schublade des Schreibtischs.

Sie hat kaum geschrieben, geweint stattdessen. Die Welt verschwommen vor den Augen.

Wer weiss schon, was morgen ist, hat er gesagt.

Sie senkt den Stift aufs Papier und schreibt: Wie dumm vom ihm. Als würde das irgendetwas erklären.

Ihr Blick fällt auf sein Gesicht, die blauen Augen strahlen und das Lächeln geht bis in die Mundwinkel. Früher war das so, bevor er diesen dummen Satz sagte.

Sie will ihn nicht ansehen, kippt das Foto vorneüber, das Glas über seinem Gesicht klirrt protestierend.

Draussen saust und braust das Leben auf der Hauptstrasse, die sie nie gemocht hat. Zu laut, nimmt ihr den Schlaf. Die Kirche in der Ecke zwischen Supermarkt und Gymnasium läutet, irgendwo bellt ein Hund. Sie schliesst das Fenster, sperrt das Leben aus.

Wer weiss schon, was morgen ist, immer wieder hört sie ihn in ihrem Kopf. Du hast gelogen, schreibt sie. Du wusstest genau, dass es für mich schon morgen keine Platz mehr in deinem Leben gibt. Morgen ist heute. Jetzt bin ich allein.

Sie streicht sich eine rote Strähne aus dem Gesicht und steht wieder auf. Wenige Schritte sind es nur bis ins Badezimmer. Sie kramt in der Kiste mit den Medikamenten. Der Kopf tut weh, der Nacken ist steif.

Ihr Mobile spielt Chopin, drüben auf dem Schreibtisch. Alan ruft an, sagt die Anzeige. 

Was willst du mir sagen? Dass du nicht weißt, was morgen ist? Ich will es nicht hören. Sie drückt ihn weg.

Wieder im Badezimmer findet sie eine Kopfschmerztabletten und eine andere weisse Schachtel, die sie ganz vergessen hatte.

Sie dreht und wendet die Schachtel in den Fingern.

Er hat ihr einmal eine Karte geschrieben, mit Venedig vorne drauf. Unter einem unglaublich violetten Himmel. Hinten drauf stand: Ich vermisse dich jetzt schon. Und dann: Ich kann ohne dich nicht leben, weißt du das?

Ich kann ohne dich nicht leben. Du kannst ohne mich nicht leben. Er kann ohne sie nicht leben. Sie kann ohne euch nicht leben. Ihr könnt ohne sie nicht leben. Wir können ohne dich nicht leben. Sie können ohne mich nicht leben.

Nie hätte sie gedacht, einmal Kindern Verben einzutrichtern. Plusquamperfekt und Präsens. Sie wollte doch Schauspielerin werden oder Entdeckungen machen, Atlantis finden, Pyramiden erforschen.

Ich kann noch dich nicht leben. Ich konnte ohne dich nicht leben. Ich habe nicht ohne dich leben können.

Sie lacht jetzt und es schmeckt bitter auf der Zunge. Das Gesicht im Spiegel starrt zurück, zu viel Rot um und in den Augen. Sie schüttelt den Kopf und die Frau im Spiegel tut dasselbe.

Ein Glas Wasser in der Küche, rasch getrunken. Sie zerknüllt das Blatt Papier und beginnt ein neues. Dann schaltet sie das Mobile aus, legt die weisse Schachtel daneben und sich selbst aufs Sofa.

Wie konnte ich ein orangefarbenes Sofa kaufen, fragt sie sich. Das beisst sich doch mit meinen Haaren. 

Es beisst sich, es biss sich, es hat sich gebissen, es hatte sich gebissen.

Am nächsten Morgen knirscht ein Schlüssel im Schloss, der Zweitschlüssel zur Wohnung, er will ihn ihr zurückbringen. Er findet sie auf dem Sofa, rotes Haar auf Orange, nur das Gesicht ist so weiss, viel zu weiss.

Zwei Sätze nur auf dem Zettel in ihrer Hand: Wer weiss schon, was morgen ist. Es wird kein Morgen geben.